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Meine kleine Zeitphilosophie
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Meine kleine Zeitphilosophie

 

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie erfrischend es sein kann, sich mit lauwarmen Wasser durch das Gesicht zu waschen.
Diese Erfahrung habe ich neulich gemacht, als ich mir seit mehreren Tagen nicht einen Körperteil gewaschen hatte. Ich hatte es schlicht vergessen. Warum? Weil ich genügend andere Sachen zu tun hatte. Ich bin nicht jemand, der den ganzen Tag nur rumsitzt und die Zeit verstreichen lässt. Nein, ich mache mir auch Gedanken dabei.
Zum Beispiel habe ich noch während ich irgend einen Science–Fiction las meine Gedanken in eine andere Richtung weiterbewegt, als sie mir der Text vorgab, weil ich diesen Roman tatsächlich anregend fand.
Es ging in groben Zügen darum, dass jemand auf einem fremden Planeten hockt, um mit Hilfe eines Funkgerätes andere Raumschiffe durch sein Planetensystem zu lotsen, ohne dass er je mit den Insassen Kontakt aufnahm, ohne dass er auf die drei anwesenden Mitbewohner achtete, und ohne dass er die Zeit, die seinen Körper veränderte, bemerkte.
Eines Tages wurde er ausgewechselt gegen einen jungen Menschen. Erst da bemerkte er, dass seine Frau gestorben war. Erst da bemerkte er, dass sein Gesicht faltig geworden war, erst da, wusste er, wie viele Jahrzehnte seit dem Beginn seiner Arbeit verstrichen war.
Meine Gedanken begaben sich ab diesem Punkt auf eine andere Reise. Ich lebte ja schließlich auch irgendwo, ich hatte etwas zu tun. Ich wurde zwar nicht bezahlt, ich war niemandem verantwortlich, außer mir selbst. Doch wusste ich in fast jeder Minute, dass alles was ich tat Zeit beanspruchte, alles, was ich dachte, konnte ich nur denken, weil Zeit verstrich. Selbst meine Träume, so kurz und kompakt sie waren, beanspruchten Zeit. Und ich bemerkte es. Meine Augen wurden manchmal müde. Mein Arm schlief ein, wenn ich zulange in einer Stellung hockte. Meine Haut bekam Pickel oder Pickel verschwanden. Die eine oder andere Narbe fand sich auf der Haut ein, weil ich ungeschickt gewesen war. Alles Spuren der Zeit.
Ich dachte nach, ob es einem Menschen gelingen könnte, etwas zu tun, ohne dass Zeit verstrich und als ich zu keinem Ergebnis kam, dachte ich nach, ob es einem Menschen gelingen könnte, nichts zu tun, ohne dass Zeit verstrich. Ich beschloss einen Test zu machen. Die Aufgabe für mich bestand darin herauszufinden, wie lange ich es schaffen würde etwas zu tun, oder nicht zu tun, ohne die dann verstrichene Zeit zu registrieren. Das müsste gehen, denn man ist als Mensch nicht immer aufmerksam, manchmal wundert es einen ja, wie viel Zeit wieder vergangen ist, seit dies und das passiert ist. Wie viel Zeit vergeht durchschnittlich bis man bemerkt wie viel Zeit vergangen ist? Das war meine Aufgabe.
Ich dachte nun darüber nach, wie ich es anstellen könnte diese Zeit zu messen, ohne mich darauf zu konzentrieren, dass ich sie messen will, denn täte ich das, wäre mein Experiment von vornherein gescheitert. Während ich durch mein Zimmer schritt und mir den Kopf zerbrach sah ich in den Spiegel. Ich wusste nicht, wann ich das zum letzten Mal getan hatte, es fiel mir auch recht schwer mich im Spiegel wiederzuerkennen. Über meine Haut hatte sich ein merkwürdiger Belag aus Staub und Hautschuppen gezogen, dass ich unwillkürlich den Wasserhahn unter dem Spiegel aufdrehte und mir den feuchten Strahl durch das Gesicht laufen ließ. Erst da bemerkte ich, dass ich mich seit Tagen nicht mehr gewaschen hatte.
Ich fühlte mich plötzlich wunderbar erneuert. Zwar bemerkte ich, dass ich Hunger hatte, aber das störte mich nicht weiter. Ich hatte plötzlich den Kopf voller vernachlässigter Pflichten. Als erstes ging ich zum Briefkasten. Er war randvoll mit Tageszeitungen und Briefen. Die unterste Zeitung war vom 17. Januar. Mir kam eine leuchtende Idee. Ich zählte die Zeitungen im Briefkasten. Dann zählte ich die Zeitungen, die ich seit Beginn meines Abonnements gesammelt hatte. Die beiden Ergebnisse addierte ich und teilte sie durch die Anzahl der Werktage (Sonntags erhielt ich keine), die seitdem vergangen waren, abzüglich derer, die vergangen waren, seit ich den Roman begonnen hatte und erhielt mein Resultat.
Ich werde ihnen nun mein Ergebnis präsentieren: 1
Da meine Maßeinheit Tage waren, musste ich weiter folgern, dass ich zu dem Ergebnis auch gekommen wäre, hätte ich Stunden-, Minuten- oder Sekundenzeitungen gezählt. Erstaunlich, dachte ich. Der Mensch registriert die vergangene Zeit immer genau dann, wenn sie gerade eben vergangen ist. Es kommt lediglich auf die Maßeinheit an, in der man denkt, denn man kann natürlich genauso in Einheiten von 45 Minuten oder 37,8 Sekunden denken.
Der leise Zweifel, dass meine Gedanken und Rechnungen vielleicht doch nicht so tiefgründig waren, wie ich anfangs dachte, überkam mich erst, als ich auf die Uhr sah, ich hatte soeben mein Frühstück verpasst. Daher ging ich zum Kühlschrank und stellte das Nachdenken ein.