Die Flut

Am Schluss war nur noch Meer und zwei Figuren, die im Sand tanzten. Wie kam es dazu? Hatte es keine andere Möglichkeit gegeben, als das ganze Land zu fluten. War das die einzige sichere Methode, sich vom Unrat, der uns alle überwuchert hatte, zu befreien? Es hatte einen Showdown gegeben. Es gab Morde, politische Morde, Attentäter und ihre Opfer, auch Märtyrer für die gute Sache, auch Verräter. Doch kommen in dieser Geschichte, die ich erzählen will, auch andere, mystische Kräfte nach oben. Uralte Kräfte, die uns übersteigen, übersinnliche Elemente. Es ist kein Politkrimi, es ist ein Märchen. Eines, dass mit alten Konstellationen spielt, dass gut und böse und zwielichtig kennt.

 

Doch zuerst muss man sich ein Land vorstellen mit malerischen Fischerdörfern und einer kleinen Hauptstadt, in der es trotz des Terrors einen bescheidenen Wohlstand gab. Glitzernde Fassaden, üppige Schaufenster, stolze Alleen aus uralten Bäumen, alten schwarzen Bäumen, durch die Autos jagten, Autos auf Menschenjagd.

 

Man hatte auch mich gehetzt, man hatte mich gestellt, und mir Schrecken eingejagt, meine Gesichtszüge entstellt, meine Träume schwer und bedrückend gemacht. Man duldete mich nicht und niemanden von den meinigen. Wir hatten den Auftrag Glück zu heucheln in einem schwarzen Land.

 

Aber die Menschen waren nicht glücklich. Sie verrichteten ihre Arbeit, fuhren hinaus aufs Meer, immer mit trüben Blicken, immer weiter auf das Meer schauend, als sie je gelangen würden, immer geknickt. Sie fuhren wieder nach Hause und immer blieb die Angst in ihnen. Die Boote trugen, die Wellen schaukelten nur sanft, oft ließen sie sich treiben, wollten getrieben werden, denn der Schmerz konnte so erträglicher werden.

 

Jeder lebte mit Verlusten. Die Führung war wahllos, jeden konnte es treffen. Die Führung war skrupellos. Die Führung war brutal. Wie kann ich die Beklemmung beschreiben, wie die Angst, die uns alle gelähmt hatte? Wieso konnten wir so lange Zeit unser Leben führen und nichts dagegen tun?

 

Es hatte einen Showdown gegeben. Es musste ihn geben haben. Im Hotel, in der Stadt, dem Luxus-Ort im Land, trafen wir alle aufeinander.

 

Widerstand. Gab es das überhaupt? Konnte eine kleine Gruppe, isoliert von allem Geschehen, mit Skepsis und mit Missachtung, derer die Angst hatten, und derer, die uns Angst machten das Geschehen ändern? Wie konnte eingeschüchterten Fischern aus den versteckten Dörfern, zwischen Dünen und Bäumen versteckt, alten schwarzen Bäumen, so etwas wie geheime Sympathie abgerungen werden. Ihre einzige Kraft war die Kraft einer trägen Masse.

 

Die dunklen Gestalten kannten uns alle. Jeder unwichtige Lebenslauf war bekannt, und es gab niemanden, der nicht das Gefühl hatte, sein Leben sei vorherbestimmt. Unser Land war zu klein, als dass ihnen irgendetwas verborgen bleiben konnte. Die Tatsache, dass sie uns noch nicht ausgelöscht hatten, konnte sich keiner von uns erklären. Aber wir alle hatten Angst.

Irgendwie gelang es uns herauszufinden, wann und wo eine kleine Chance bestand, Licht zu machen. Es war im Hotel, dem einzigen des Ortes, dem einzigen des ganzen kleinen Landes. Nirgendwo gab es einen Ort, wo wir uns unbeobachtet fühlten, aber es gab auch fast keinen, wo sie sich beobachten ließen.

 

Es gab diesen einen, den Verräter, den, der sich nie wohlfühlte in seiner Haut, den, der noch hin- und hergetrieben war, den, der, ganz gleich, was er tat, immer diesen Drang verspürte sich aufzulehnen, den, der nie zufrieden war, und niemals sein wird.

Ein Mensch der Skrupel hat etwas zu tun, dem der Schweiß auf der Stirn steht, wie ein ungeliebtes Körperteil, dem die Augäpfel hinter den Lidern pochen, wie anderen das Geschwür im Darm. Ein Mensch der verzagt und nicht verzagt, der sich nachts im Schlaf wendet, sich treiben lässt, aber treiben will, der uns nach drei durchwachten Nächten sagt, wann und wo dem Despoten ein Ende beschert werden kann, und der sogleich danach verschwindet auf seinen ungeliebten Posten. Einer dem man nicht trauen kann, aber dem man trauen muss, weil sonst niemand da ist.

 

Nie hatte es einen Grund für sie gegeben, sich sicher zu fühlen, nie gab es genügend Schutzpersonal, und nie konnten sie sich so genau aussuchen, wer sie da beschützt. Es ist ein kleines Land mit wenigen Geheimnissen, aber es ist auch ein kleines Land mit wenigen Menschen. So gab es den Verräter in den feindlichen Reihen. Der Verräter, dem man danken muss.

 

Das Wann war uns nur ungenau bekannt. Zeit hatten wir, um uns vorzubereiten, heimlich die Grenzen des Landes zu überschreiten, unsere Grenzen zu dehnen, zu verhandeln - Waffen, Munition, Pläne, Verbündete - und Angst, dass die Zeit zu lang ist. Sie dehnte sich und je mehr sie sich dehnte, desto größer wurden die Lücken, in denen nichts geschah, und die allen die Möglichkeit gaben, durch sie hindurch zu spähen. Auf uns, wie wir nackt vor Angst mit unseren Gewehren und den Zeichen des Aufruhrs in den Augen kauerten und warteten.

 

Das Wo. Ein Hotel, das Hotel, das einzige Hotel. In dieses Hotel sollten sie kommen und wir waren schon da. Wir arbeiteten uns ein, wir besetzten die Karrieresprossen und hielten den Kontakte zum Verräter. Das Hotel war von uns durchsetzt. Wir saßen hinter den Schreibtischen, hielten die Telefonhörer an die Ohren und lauschten auf die Stimmen, die zu uns schnarrten, die unsere Gehörgänge wund kratzten mit Verboten und Erlassen der einen Seite, mit Spekulationen und Informationen der anderen. Wir mussten uns öffnen und die Menschen locken und beizeiten wieder verschließen um uns die Sicherheit des geheimen Ortes zu bewahren. Nachts in den Fluren liefen wir umher, präparierten uns und säuberten, verteilten Wanzen und sammelten sie wieder ein. Wir wussten was geschehen sollte, doch wussten wir nicht, was passieren konnte.

 

Die Tyrann kamen, so wie es der Verräter vorhergesagt hatte. Sie kamen und baten uns um einen Termin. Sie baten uns und gaben uns die Macht ihre Bitte zu erfüllen. Sie erhoben uns aus unseren Plänen in die eine gewollte Realität, die sich dann nicht mehr ändern ließ. Es gab keine Intrigen, keine schöne Frau kam, uns Angebote zu machen, uns mit Macht zu locken, uns Glück zu versprechen. Kein Mensch ließ sich blicken, keiner malte uns Bilder aus, die unseren Plan vereiteln konnten. Kein Gespräch fand statt auf den Fluren, nichts geschah bei Kerzenschein in Vier-Augen-Atmosphäre. Niemand hielt uns auf.

 

Menschen mussten her. Je mehr, je besser. Schlichte Menschen, die Trägheit und Angst in sich trugen, deren Inneres gegen die Macht rebellierte. Deren versteckte Rebellion aber noch nicht laut geworden war. Sichere Menschen für unsere unsicheren Pläne.

 

Das Hotel enthielt Verlockungen und Ablenkungen, einen Theatersaal, zwei Schwimmhallen, eine Bibliothek, Vortragsräume, kurz alles, was man sich wünscht, wenn die Luft zum Atmen draußen zu dick wird. Wenn das alles draußen nicht wahr sein darf. Wenn man die Spitzeleien und Morde nicht weiter an sich geschehen lassen will. Es kamen viele Gäste, bedrückte Menschen, die sich Freiheit verschaffen wollten. Sie traten ein und lasen in den Büchern der Bibliothek über andere Welten, die so fantastisch waren, dass man sie erlaubte. Sie hörten nicht, was wir ihnen mitteilen wollten, aber sie ahnten es.

 

Sie traten ein und schwammen sich die Seelen frei und wir spielten für sie Theater,

Nichts drang nach außen, alles blieb geheim, und wurde geheimer, bis es sich irgendwann für das Wann eignete. Das Wann am Morgen vor der letzten Nacht unseres Landes.

Wir zeigten einen Film über die Kraft des Meeres, über die schrecklichsten Tiere, die nur selten von Menschen gesehen worden waren. Die Menschen waren auch dieses mal gekommen. Und der Film hatte Wirkung auf sie. Sie spürten, wie sich die Gewalt der Wellen in ihre Herzen schlich, wie sie selbst Teil dieser ewigen Bewegung des Meeres werden wollten, die sich zu Hause tagtäglich vor ihren Haustüren ereignete, die sie aber nie wahrgenommen hatten, weil sie täglich da war. Sie spürten schon das Rauschen, dass sie befreien sollte, sie wollten sich und ihre Welt reinigen und als sie das merkten, merkten sie, dass sie es schon viel zu lange gewollt hatten.

 

Und wir? Wir uns in dem Saal, in dem sich die Despoten treffen wollten, auf ihre Ankunft vorbereitet. Es standen bereit: die Menschen, die kräftigen und die verzagten, die Wörter, die durch die Luft zischten, von Ohr zu Ohr, die Kommandos, die den Plan mit entsetzlicher Genauigkeit füllten, und die Seelen ergriffen machten. Und die Fäuste in den Taschen sich ballen ließen.

 

Wir wussten nicht wer zuerst in den Saal treten würde. Wir mussten uns geduckt halten, auf dass uns die Leibwächter der Macht nicht sahen. Wir hatten eine alte Kanone geladen, eine zu auffällige, als das sie auffallen konnte, und auf die Eingangstür gerichtet. Ich selbst hatte eine kleine Kiste vor meine Knie gelegt, darin waren ein Messer, eine Pistole, etwas Munition. So knieten wir zwischen den Bänken des Saales und warteten, während unter uns die Bevölkerung gebannt auf die Leinwand starrte.

 

Die Tür ging auf und dunkle Gestalten traten ein. Sie mussten ja dunkel sein. Und niemand von ihnen hatte Angst, erkannt zu werden. Sie hatten ja die Macht. Wir ließen sie an uns vorbei schreiten, ließen sie kontrollieren, unsere Verstecke waren gut. Sie sahen uns nicht. Wir hörten, ihr „in Ordnung“ und die Tür öffnete sich ein weiteres Mal und wir zündeten die Kanone.

 

Sie traf einen Menschen, doch wer da durch die Tür schritt, war nicht die Macht. Bloß ein unbedeutendes Mitglied der Macht fiel zu Boden. Der Aufprall war sein Ende und zugleich die Warnung an alle weiteren Eintretenden. Man suchte nach der Ursache, man lief hin und her, man stürzte Stühle und Bänke um, und in dem Chaos drohte das Ende der Revolution. Wir wurden entdeckt. Aber ich sah ihn. Ihn, der kurz zwischen seinen Schutztruppen hervorblickte, ich schoss und ich traf. Dann kam die Katastrophe.

 

Unter uns war ein Film zu Ende gegangen und das Publikum, noch erregt vom letzten Bild nahm den Schuss wahr, der über sie hinwegfegte, sie wogten, sie stürmten die Treppe hinauf und fanden uns um Hilfe ringend in den Armen der dunklen Macht, die führerlos und unsicher wankte. Ihnen, nicht den Menschen, stand der Schreck in den Augen, die Stirne waren zu Furchen gefaltet, in denen sich Entsetzen ausbreitete. War es Angst, hatte ein einziger Schuss unsere Angst mit sich gerissen und unter den anderen verstreut? Die Menschen quollen herein in den Saal, und sahen die Angst der anderen. Das machte Mut. Das Rauschen des Meeres und der Maschinenpistolen ließ sie auf die Knie stürzen, aber immer neue Wellen aus Menschenleibern brachen durch die Tür. Der Boden des Saales knackte, und noch immer hörte die Menschenflut nicht auf.

 

Wir stürzten ein, und sahen, wie der Wasserspiegel stieg. Die Schleusen waren geöffnet. Das Wasser strömte über die Menschen hinweg und Wasser und Menschen strömten durch die Flure und prallten gegen die Mauern. So viel Wasser konnte das Gebäude nicht fassen. Es brach sich durch die Mauern und floss hinunter, hinunter zum Meer. Die Bäume am Strand, hundert Jahre alte Stämme, wurden geknickt, Sand und Staub wurden aufgewühlt und das blaue Wasser des Hotels strebte zum grünen des Meeres.

 

Tiere wurden aufgeschreckt. Das Rauschen kroch über das Meer und weckte ungeheuerliche Meerestiere auf. Das Meer und seine Bewohner erhoben sich und das Rauschen, das stärker war, als alles, was sie bisher vernommen hatten, lockte sie an. Sie strömten zum Strand, sie wälzten sich groß aus den Fluten. Ein riesiger Krebs stand auf und ließ seine Scheren über die nassen Massen schwingen. Die Macht, die entpersonifizierte Macht, wurde Chaos und verfing sich hier und da und verfing sich in den Scheren des Krebses und es geschah etwas, dass wir mit wasserumspülten Augen nicht glauben konnten. Die Verbrüderung zweier Gewalten. Die Tyrannen des Meeres und die Revolte des Landes vereinigten sich, um die Flut, die durch uns, Kämpfer für das Gute, bereits losgetreten war, zur Sturmflut zu machen.

 

Wir schwammen ohne Beherrschung. Der Boden war längst verschwunden, es schwemmte uns, spülte uns nach oben, drückte uns unter die Oberfläche und fünf Stunden lang war nichts als Toben in unseren Ohren, Wasser, das unsere Augen trübte, das unsere Tränen löste, Salz, das sich in die Haut brannte, Wasser, dass unsere Köpfe zusammenschlug, unsere Körper aufquellen ließ, das sich immer wieder selbst fraß. Häuser brachen ein, Boote zerschmetterten an den Klippen, Bäume, alte schwarze Stämme, bohrten sich in die Wellen und tanzten sich in einen Rausch.

 

Dann war Ruhe. Ich lag, auf einem unbekannten Grund. Meine Nase pustete Sand in das ruhige Meer, meine Augen waren auf den Horizont gerichtet und sahen weit draußen zwei Menschen tanzen. Eine Frau, ein Mann, mit langen Gewändern, mit nassen Haaren. Die Sonne ging hinter ihnen auf. Ich sah nach Osten, ins Licht, sah Ruhe und mitten in der Ruhe zwei tanzende Körper.

Sonst sah ich nichts.



Wombo-Schlagworte: Rebellion + Meer + alter + Baum, Style: Mystical