Erzählungen

Odyssee in Südwestwestfalen

Henning war unterwegs. Wie so oft. Doch diesmal war es anders.

Diese Sache war gekommen, weil Henning das dringende Bedürfnis hatte sich neu einzukleiden.

Henning war ja eher der smarter Typ und er hatte durchaus Schlag bei den Frauen in Sprockhövel. Und das wollte er nicht auf‘s Spiel setzen.

Also auf nach Hattingen, dachte sich Henning und schon schipperte er den Sprockhöveler Bach hinab. Er war kaum bis nach Sünsbruch gekommen, immer schön die Paddel durch die teils lehmige, teils schroffe Bachkante drückend, als es laut und vernehmlich Pfft machte. „Verdorrich noch eins, dat blöde Gummiboot“, dachte Henning und kriegte auch schon die Beine nass. „Wenn mich jetzt einer so sieht, ist es mit meinem Schlag dahin.“ Er hievte das nasse Gummiboot über die Uferkante und sah sich um.

„Nicht weit bis zu Sonja“, dachte sich Henning. „Die kleine Sonja aus Bredenscheid. Na, dann frag ich doch die!“ Und er wollte losgehen. Aber eine von dem Gummiboot seine Schlaufen hemmte ihn daran diesen Plan auch tatsächlich umzusetzen und padauz! lag er auf dem Boden vom Sünsbrucher Sumpf. Und knack! Schochen gebrochen.

Laut und jaulend schrie er auf. Mehrfach, sogar. Und so kam es, dass sein Gebrüll auch an dem göttlichen Wesen seine Ohren drang, das, seit man seine alte Heimstatt in ein Restaurant umgewandelt hatte, kurzerhand in einen zugigen Turm umzuziehen gezwungen war.

Schneller als Naturwissenschaftler denken können, war Sonja bei ihm, streichelte ihm erst über die Wange, goß ein wenig Sprockhöveler Wasser auf seine Knochen und raunte dann: „Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Glied, als ob sie geleimt seien!“ Ja, so hauchte sie. Und während Henning immer leiser seufzte, blickte er die göttliche Sonja an und dann grinste er wieder: „Alles wieder gut! Tat ja gar nich weh!“

„Wo wisse hin?“, fragte Sonja da ganz unerwartet. „Nach Hattingen, neue Pieselotten kaufen, siehste ja, geht so nich mehr. Wat frachse?“

„Nö, nur so!“, sagte Sonja und grinste genauso, wie es eben noch Henning getan hatte.

„Wat? Wisse etwas mit? Nach Hattingen? Is doch gar nich dein Revier. Aber ich hab nix dagegen. Muss bloß ers dat olle Boot hier flicken. Wennse n bissken Zeit hast, nehm ich dich mit rein. Brauchst wohl auch mal wieder wat Neues, woll?“

Sonja strahlte ihn an. „Echt, dat würsse machen? Bist ja n‘ richtig netten.“

„Jou!“

Aber nun überlegte Henning natürlich, wie er ohne großen Zeitverlust dieses vermaledeite Gummiboot geflickt kriegen würde. „Is ja doch n‘bissken friemelig!“ Doch da geschah mit aller Macht ein Wunder. Es kam mitten auf dem doch viel zu schmalen Bach ein Floß daher. Wer kann sagen, von woher und wie das technisch überhaupt möglich war, so ein breites Floß auf so einem kleinen Bach?

Und auf dem Floß saßen Kläusken aus Bredenscheid-Stüter, Ömmel aus Dellwig und die olle Päusken hinten vom Hilligloh.

„Ömmel, Kläusken, Päusken? Wo kommt ihr denn nu wech? Habta dat geahnt, dat ich hier dumm aus de Pieslotten guck, weil ich mir mein Boot verhunzt hab?“

„Nee, dat wohl nich, aber komm doch rauf hier bei uns, mit deiner schicken Braut! Wir wollen nach Hattingen.“

Und da sagte Henning zu Sonja. „Wie finsse dat. Hab ich dir extra herbeordert, die drei da!“

Sonja strahlte: „Na denn mal los un hör auf hier rumzusalbadern! Ab nach Hattingen!“ Und schon war das Gummiboot vergessen.

Nur kurze Zeit später und in guter Stimmung legte das Floß mitsamt seiner johlenden Besatzung direkt unten an der Henrichshütte an der Ruhr an. „Jetz ham wa uns ne ordentliche Stärkung verdient“, sagten Kläusken aus Bredenscheid-Stüter und Päusken hinten vom Hillingsloh wie aus einem Mund. „Jou, ich hab auch Knast“ meinte Ömmel „Gehnwa übern Ruhrdeich rüber ins Landhaus zu Grums Herta!“

„Jou!“, sagten die anderen beiden und Ömmel und Päusken und Kläusken sprangen ans Ufer.

Wahrscheinlich, weil Henning und Sonja sich in diesem Moment etwas zu lang in die Augen geschaut hatten, fehlte ihnen die nötige Aufmerksamkeit ebenfalls im richtigen Moment den Sprung an Land zu vollziehen. Und nur weil Ömmel ja etwas wohlbeleibter als die anderen war, er durfte ja drüben im Pertheshaus immer kräftig mitessen, wenn seine Olle dort Schichten schob, und nur weil die Widerstandskraft des Seiles nun mal eben nicht ganz ausgereicht hatte um dem Rückstoß standzuhalten, den seine 118 Kilo gerade eben all zu plötzlich auf die Nautik ausübte, riss dass olle Seil und das Floß, beladen mit Henning und Sonja, trieb auf die offene Ruhr hinaus.

„Verdammt“, dachte Henning. „Wie romantisch“, dachte Sonja.

Nun ist die Ruhr ja mal ne andere Nummer als der Sprockhöveler Bach und so ganz geübt in Seemannsdingen war Henning ja auch nicht. Aber er dachte: „Wenn ich das hier vermassel, dann kann ich einpacken, bei Sonja und bei allen andern!“

Und so gab er sich redlich Mühe, das Floß immer schön mittig zu halten. Der Schweiß stand ihm zwar auf der Stirn, doch tat er so, als ginge es ihm leicht von der Hand und zum Beweis, dass das auch wirklich so wäre, grüßte er so ganz aus der Lamäng den ein oder anderen vorbeischippernden Ruhrkapitän, der seinen vollbeladenen Kahn mit sehr viel mehr Leichtigkeit als Henning von Hattingen bis nach Duisburg Ruhrort hin zu steuern gedachte.

„Wat hälsse von Shopping in Duisburch?“, rief Henning der göttlichen Sonja zu, die sich doch tatsächlich zum Bräunen auf der krüseligen Rinde von dem Floß seinen Brettern ausgebreitet hatte und, wie eigentlich die ganze Zeit schon, ihre Augen grinsend auf Henning gerichtet hat. „Ich meine wennse gezz vergleichs, Hattingen is ja nich, und Essen is nich so meins. Wat denksse?“

„Shopping in Duisburch? Henning, du machst mir Spass! Wat‘n Glück, dat ich dich getroffen hab. Du biss ja ‘n ganz verückten Kerl, woll?“

Henning lief rot an, und sein Herz puckerte immer döller. „Vielleicht brauch ich die andern Mädels gar nich mehr, wenn ich dat hier gut über de Bühne krieg!“, dachte er bei sich, als plötzlich mitten aufm Baldeneysee mit Foffo ein Motorboot so scharf an den beiden vorbeizischte, dass das Floß ins Schlingern geriet. Sonja blieb liegen wo sie war, denn nur so konnte sie die nötige Balance aufbringen, Henning allerdings torkelte wie so‘n strunkeligen Seemann von Steuerbord nach Backbord und gleich wieder zurück, bevor er bedrüppelt mit sein Hintern auf de Planken von dat Floß zu sitzen kam. „Ich kriech hier gleich de Pimpernellen, wat fürn Heiopei war dat denn? Oller Bollerkopp!“ bölkte Henning dem Raudi noch hinterher.

„Ach Henning, wat guckste so bedröppelt! Is doch kein Grund gezz ins Käbbeln zu kommen. Nu fuckeln wa uns dat olle Floß wieder zusammen, und dann fahrn wa halt nur bis Mühlheim. Dat schaffen wa dicke. Is doch auch gut. Komm ma bei mich bei und lass dirn Schmatzer auffe Backen drücken. Is doch alles gut gegangen.“

„Wie, wat, dat Floß?“ Und jetzt sah Hennig erst, dass sich nach dem ganzen Kuddelmuddel das Floß in Einzelteile aufzulösen begann. Schon hatte sich backbord das erste Brett gelöst und Henning wollte aufstehen und das alles wieder zusammenfuckeln, doch Sonja schien es nichts auszumachen. Und auch als sich die ersten Bretter vom schiffbaren Verband gelöst hatten, gab sie sich zufrieden und grinste ihren Henning an. Also tat er es ihr gleich und ließ sich den versprochen Schmatzer auf die linke Wange drücken.

„Komm lass uns ma n‘ kleines Pröleken halten.“, sagte Sonja. „Kannse eh nix machen, gezz!“

„Ja, wennse meins, Sonja. Denn setz ich mich ma hier auf dat letzte Brett bei dich. Dat hattich mir aber ganz anders vorgestellt, dat kannse mir glauben!“

„Jou, dat glaubich dir auch, Henning. Aber nu erzähl. Wat wisse dir denn kaufen?“

Und so entsponn sich auf dem letzten schwanken Holzbrett von dem ehemaligen Floß auf der Ruhr ein Gespräch über feinen Zwirn und spektakuläre Looks, über Klotschen und Schluffen und über Päuskens letzten Schlör. Den, wo sie beim Bredenscheider Schützenfest an hatte. Und als sich eben dem Floß sein letztes Brett in Mühlheim an einem ollen T-Profil verkeilte, das hier in der Ruhr vor sich hingammelte, waren die beiden sich schon einig, dass auch Secondhand-Mode durchaus in Frage kommen könnte. Und als es dann anfing zu fisseln und der Regen nachher so richtig volle Kanne ausm Himmel über der Ruhr auf die beiden runterplästerte, war Kleidung eigentlich fast schon egal.

Und nun geschah mit aller Macht ein weiteres Wunder. Es kam sozusagen in letzter Minute ein Seil herabgebaumelt, kurz vor dem Untergang von Sonja und Henning. Ein Seil. Wer kann sagen, von woher und wie das technisch überhaupt möglich sei, so ein dickes Seil aus ner Regenwolke über der Ruhr. Henning ergriff das Seil mit starker Hand und Sonja mit dem anderen Arm um Sonja ihre Taille und schon wurden sie nach oben gezogen. Nach oben in den Heißluftballon, der dem starken westfälischen Regen trotzte und einfach so da hing, als hätte noch nie ein Naturwissenschaftler darüber nachgedacht. Und da schallte von oben Kläusken seine Stimme herab. „Na, wat macht ihr denn für Spirenzkes da unten im Dreckwasser. Wie son ollen Schlunz sehter aus. Na, gezz ziehn wa euch ers ma mit Schmackes ausser Bedruille und dann kommt dat wieder inner Ordnung.“

Und Kläusken aus Bredenscheidt-Stüter, Ömmel aus Dellwig und die olle Päusken hinten vom Hilligloh zogen Henning und Sonja triefnass aber glücklich in dem Heißluftballon seine Gondel.

„Ömmel, Kläusken, Päusken?“, staunten Sonja und Henning. „Wo kommt ihr denn nu wech? Habta dat geahnt, dat wa hier dumm aus de Pieslotten gucken, weil uns so Bollerkopp euer Floß verhunzt hat?“

„Ne. Geahnt hamwa dat nich. Dat is doch klar, wer dir dat hier alles eingebrockt hat.“ Das sagte Kläusken aus Bredenscheid-Stüter und Sonja, die ja nu inzwischen ganz genau wusste, dass sie ab jetzt nicht mehr in dem ollen Turm wohnen muss, grinste. So wie schon die ganze Zeit, also, von Anfang an.


 


Wombo-Schlagworte: Floss auf der Ruhr, Style: Steampunk