Erzählungen

Der Marienkäfer

Ein bekanntes Mädchen war auf einmal mit mir in einem Zimmer. Wir hatten uns bisher immer nur flüchtig, flügelschlaglang aus der Ferne, aber doch tief in die Augen gesehen. Das Schicksal hatte uns beide in irgendeine dieser von unseren Eltern ausgewählten Ferienfreizeiten verschlagen. In dem Moment, in dem ich sie so nah bei mir wahrnahm, hatte sich das Haus verändert. Es verfügte plötzlich über einen zweiten Ausgang mit zwei Türen, die ich wohl unbewusst aus meiner leicht täuschbaren Wahrnehmung in dieses Gebäude übertragen habe, obwohl sie ganz woanders hätten sein müssen.

Das ist aber nicht das Wesentliche, denn am erstaunlichsten, auch am beunruhigendsten war der Marienkäfer, der sich in unglaublichen Dimensionen auf der Fensterbank des Zimmers breit machte, so dass sich das bekannte Mädchen und auch ich, der sich plötzlich in einer Beschützerrolle wiederfand, ein wenig beklommen fühlten. Ich habe aber nicht ihre Hand genommen; ich habe nur die Tür geöffnet. Für uns. Ich habe nicht das Fenster geöffnet, damit das Riesending verschwinden könne.

Das ist überhaupt eine geniale Strategie, in beklemmenden Situationen einfach eine Tür zu öffnen. Es braucht für Auswege nicht gleich eine komplexe Vision, ein kleiner Ausweg genügt und wirkt Wunder. Das zumindest übertrug sich auf das bekannte Mädchen. Sie nahm meine Hand. Die Hand zu nehmen hat eine mitunter erotische Wirkung. Man spürt die Wärme, auch den leichten Feuchtigkeitsfilm, der sich zwischen den Handflächen aufstaut…

Der Marienkäfer allerdings versuchte kurz, das Handlungsfenster, dass ich uns zweien da aufgetan hatte, wieder zu zerstören. Er gehorchte zwar der Theorie der Selbstbefreiung durch das Türen-öffnen, doch kehrte er sie in das Gegenteil um. Was bedeutete, dass er sich auf meinen Trick einließ, er begann sich mit anmutigen Schritten, man konnte sie, jeden einzelnen von ihnen, deutlich wahrnehmen, auf die Tür zuzubewegen. Er nutzte den Fluchtweg, den wir in Überlegung, unserer Beklommenheit zu entfliehen, hätten nehmen müssen. Er schritt gemächlich und gleichzeitig rasant, wie es nur in Träumen geht, die lange Handlungen zu beschleunigen trachten, dem Ausgang zu und verschwand nach rechts. Warum nach rechts? Das sollten wir nach unserer kurzen Phase der Erleichterung zu spüren bekommen.

Er kam durch das geöffnete Fenster wieder herein, zumindest soweit, dass er sich wieder auf der Fensterbank präsentieren konnte, von der wir ihm einen Ausweg geboten hatten. Man konnte also nicht anders als seine Anwesenheit erneut spüren. Und ich meine deutlich spüren.

Etwas, das groß ist, macht sich nicht nur für unsere Augen groß. Es drängt sich mit allen Attributen, die es besitzt, das heißt mit seinem Geruch, mit seiner Eleganz und seinen Geräuschen so weit in unser Bewusstsein, dass wir es in jedem Fall wahrnehmen müssen und zwar so intensiv, dass es uns in unserer Existenz zu bedrohen beginnt. Dann ist man gezwungen sich auseinanderzusetzen mit dem Phänomen. Man erkennt leichte positive Züge, man fängt sogar an die gleißende Farbenpracht des tückischen Orange zu bewundern, die schwarzen Flecken stören nicht dabei, der Kontrast verstärkt ja bekanntlich. Der süßliche Geruch eines Marienkäfers, den jeder schon mal wahrgenommen hat, kann sich schnell zu einer betörenden Substanz heraufschrauben.

Mehr, ich will noch mehr riechen, man geht ein paar Schritte näher, immer die Hand des bekannten Mädchens haltend, und ist man näher nimmt man die Details wahr, aus der sich die Ästhetik zusammensetzt, leichte Geruchsvariationen des Süßlichen, die ein angenehmes Kräuseln der Naseninnenwände hervorrufen, schimmernde Farbplättchen auf den Flügeln, die vermutlich erst in unseren Augen zu tanzen beginnen, nicht auf seinem Leib…

Das Kribbeln im Bauch ist unvermeidlich. Aber wenn man nicht zu nah getreten ist und sich, bevor man sich restlos verfängt in der Anmut der Natur, ein wenig Distanz bewahrt kann man grübeln, überlegen, vermuten. Warum ist er zurückgekommen, warum will er sich uns präsentieren?

Der Ausweg war ein scheinbarer.

Wir waren ihm ausgeliefert, obwohl alle Wege nach draußen frei vor uns lagen. Wir waren ihm ausgeliefert aufgrund seiner betörenden Größe.

An dieser Stelle des Traums half uns der Wind. Die Natur muss sich ja nicht immer gegen den Menschen wenden: Der Marienkäfer wurde von seinem Platz geweht, er hatte keine Zeit seine Flügel auszubreiten, denn der Morgen nahte und der Traum wollte zu einem Abschluss finden. Er muss federleicht gewesen sein. Das hätten wir nicht vermutet. Er schlug auf dem Boden des Zimmers auf und zerschellte. Er hob nicht ab wie im Mikrokosmos. Er zerschellte in so kleine Stücke, dass nicht eines davon auf dem Boden des Hausflures mehr zu erkennen war.

Das war der Marienkäfer.

Und das war der feuchte Film auf den Handflächen zweier Menschen.



Wombo-Schlagworte: großer + Marienkäfer + am + Fenster, Style: Steampunk