Erzählungen

Finnland - das Land der tausend Seen

„Du kommst doch zu Seebestattung?“, wollte meine Mutter noch wissen. Ich war leicht überfordert von der überraschenden Neuigkeit, die ich gerade am Telefon erfahren hatte und stellte mir vor, wie man es anstellen würden, einen See zu verbuddeln.

„Nein, das hast du falsch verstanden. Tante Mikki möchte im See beigesetzt werden. Hast du mir überhaupt zugehört?“ Meine Mutter war ziemlich ungehalten. Das muss ich sagen.

„Ich habe dir zugehört, aber ich weiß gar nicht, was das alles soll. Wer ist denn diese Tante Mikki?“

„Na, das sagt genau der richtige. Wenn du meinst, du könntest das alles so nonchalant überspielen, dann hast du dich geschnitten! Wir werden ja sehen, wie du dich bei der Testamentseröffnung dann anstellen wirst. Also, nur dass du es weißt: Deine Anwesenheit ist erwünscht. Aber von mir aus, kannst du machen, was du willst. Tschüß!“

Sie hatte aufgelegt und ich saß recht bedrüppelt da. Meine Frau schaute mich fragend an.

„Es steht scheinbar eine Beerdigung, nein, eine Bewässerung ins Haus.“, sagte ich. „Irgendeine Tante Mikki. Ich weiß gar nicht wer das ist.“

„Na, das sagt genau der richtige!“, entgegnete meine Frau, drehte sich um und ging.

Ich gebe ehrlich zu, dass mein soziales Engagement in letzter Zeit etwas nachgelassen hat. Im Grunde genommen hatte ich mich ganz wohl dabei gefühlt, in meinem Sessel zu sitzen und die Tage an mir vorbei plätschern zu lassen. Aber gut, nun standen ein paar Termine an und ich begann meinen Koffer zu packen, um in die alte Heimat aufzubrechen.

„Was benötigt man bei einem tragischen Ereignis wie diesem?“, fragte ich meine Töchter, denn ich wollte meiner Frau nicht zur Last fallen, ungehalten wie sie war.

„Tragisch ist, dass du Tante Mikki nicht kennen willst. Alle sprechen nur noch davon!“, sagte meine Älteste. „Geh in schwarz! Und nimm deinen Ausweis mit. Und komm ja nicht mit leeren Händen wieder! Uns fehlt‘s doch hier an allem.“

Das war deutlich.

Am nächsten Donnerstag ging mein Zug. Abfahrt 8:37 Uhr am Gleis 2. Ich zurück in die Heimat, acht Stunden quer durchs Land, vorbei an Städten, Wäldern, Seen. Ich hätte es genießen können, wäre der Zug nicht voll besetzt gewesen mit einer finnischen Reisegruppe aus Satakunta. Nicht, dass mich ihre melancholischen Lieder gestört hätten, die sie alle Viertelstunde auf‘s Neue anstimmten. Das konnte ich ganz gut vertragen, aber diese dauernden Fragen „Was soll denn nun aus uns werden?“ Und ihre scheelen Blicke in meine Richtung. Das ging mir dann doch gehörig auf die Nerven.

Als dann erneut eine Finnin zu mir kam und in gebrochenem Deutsch fragte, „Was soll denn nun aus uns werden?“, reichte es mir. „Hören Sie! Tante Mikki ist verstorben und ich bin auf dem Weg zur Trauerfeier. Bitte gönnen Sie mir ein wenig Ruhe! Das wäre nett.“

„Na, das sagt genau der richtige!“, riefen da plötzlich mehrere finnische Männer aus dem Nachbarabteil und ihre Blicke wurden abgrundtief finster.

Mir wurde etwas mulmig zumute. Was hatte ich diesen Leuten aus Satakunta bloß getan?

Nach acht Stunden Dauerbeschallung und Geheule über die finnische Zukunft, war ich erleichtert, dass ich nun den Zug verlassen konnte. Doch auch die Finnen erhoben sich von ihren Plätzen, suchten ihre Habseligkeiten zusammen und drängten mit mir hinaus ins Freie.

Ach, wenn es doch frei gewesen wäre!

Das Bahnhofsgelände meiner Heimatstadt ist an sich recht weiträumig angelegt. Doch heute quoll es über vor Menschen. Meine Schwester hatte versprochen mich abzuholen, doch in dem Gewühl der vielen Abordnungen aus Jyväskülä, Vaasa, Lappeenranta, ja sogar aus Rovaniemi, hatte ich größte Mühe, sie zu finden.

Am Taxistand hatte sich eine finnische Hardcore-Band aufgebaut und rotzte ihren Weltekel in die Mikrofone. Dahinter boten einige Händler ostbottnischen Brotkäse zur Stärkung für die Trauernden an. Ich entdeckte meine Schwester eingerahmt von der finnischen Schlammcatcher-Nationalmannschaft, hilfesuchend winkend. Als ich sie in den Arm nahm hatte ich den Eindruck, dass die Hardcore-Band noch rotziger im Ton wurde, aber mein Eindruck kann trügen, denn zeitgleich erhob sich ein lautstarkes Geschrei der Abordnung aus Karelien, weil gerade Sauli Väinämö Niinistö, das finnische Staatsoberhaupt, vor der Hauptpost gegenüber mit einer Rede zur Lage der Nation begonnen hatte.

„Hast du eine Ahnung, was das alles soll?“, fragte ich meine Schwester zur Begrüßung. „Na, das sagt genau der richtige.“, entgegnete sie mir. „Hör zu, ich mach das hier nur, weil du noch was gut hattest, vom letzten mal. Ich bring dich zum See, wo Tante Mikki schon seit gestern aufgebahrt ist. Und dann ist mein Job hier erledigt. Übernachten bei uns is nicht. Sieh zu, wie du dann morgen alleine zur Testamentseröffnung kommst.“

Meine Schwester fuhr mich zum See, wo zum Glück etwas weniger los war, als am Bahnhof vorhin. Ein paar finnische Flößer hatten einen Steg in den See gebaut, auf den nun acht Rentiere langsam und feierlich Tante Mikkis Sarg zogen. Am Ende des Stegs wartete der Larin-Paraske-Chor um einen altfinnischen Runengesang anzustimmen, zu dem dann der Sarg in den See gelassen wurde um dann leise gluckernd im See davon zu treiben. Viele Tränen flossen und mischten sich zu unseren Füssen in den Pfützen, die vom gestrigen Regentag übriggeblieben waren. Ich wollte meinen Blick nicht erheben. Zu viele missmutige Gesichter hatte ich heute schon gesehen. Ich starrte zu Boden auf die Pfützen, die vor meinen Augen zu flimmern begannen und nun ein Miniaturabbild der finnische Seenlandschaft bildeten.

„Bist du jetzt zufrieden?“, raunte mir eine Stimme zu. „Sich so einzuschmeicheln! Unerhört!“

„Ich versteh nicht!“ wisperte ich ganz kleinlaut. „Ich würde das alles endlich gern verstehen! Es ist bestimmt eine Verwechslung!“

Aber keine Antwort kam. Alle hatten sich von mir weggedreht. Ich stand allein inmitten der tausend salzigen Pfützen am Ufer des Sees und nahm mit zitterndem Unterkiefer wahr, wie sich Tante Mikkis Sarg titanikgleich in die Tiefen des Sees verabschiedete.

Mit diesem traurigen Bild im Kopf stapfte ich davon, um mir im Ort ein Quartier zu suchen. Auf meine Verwandtschaft konnte ich ja dabei nicht zählen. In einer schäbigen kleinen Kaschemme bot man mir ein letztes freies Bett an. Es seien so viele Touristen im Ort im Moment. Doch das Ambiente war mir herzlich egal. Ich legte mich aufs Bett und viel sogleich in einen tiefen abgründigen Schlaf. Die ganze Nacht hindurch liefen Rentiere durch meinen Kopf, riefen sich lappländische Hirten fremde Kommandos zu. Apokalyptica drhnte aus einem Versteck im Birkenwald und Aki Kaurismäki tanzte in einer heruntergekommenen Sauna einen traurigen Tango dazu.

Am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg zum Notar. Meine Mutter, meine Schwester und Sauli Väinämö Niinistö standen schon vor der Tür. Nun kam ich und mehr Erben waren wohl nicht geladen. Wenn die Blicke aller anderen gestern schon finster waren, so traf mich heute der blanke Hass. Schweigend schlichen wir ins Notariat, alle nahmen mit zusammengebressten Unterlippen Platz auf den weiß-blauen Polsterstühlen und genauso schweigend und eisig erhob man sich, als der Notar dann schließlich den Raum betrat.

Wir alle wollen Tante Mikki in guter Erinnerung behalten, und das wird bald, wenn die Zeichen günstiger stehen, auch wieder gelingen. Wenn ein wenig Zeit ins Land gegangen ist. Vielleicht wendet sich ja eines fernen Tages alles zum Guten. Keiner weiß, was in Tante Mikkis Kopf vor ihrem Ende vorgegangen ist. Nun ist Tante Mikki tot und Sauli Väinämö Niinistö hat mir in den letzten Tagen dargelegt, dass aus rechtlichen Gründen, die mit dem Februarmanifest zusammenhängen, Finnland seither vogelfrei ist. Da nun aber die Finnen selber viel zu bescheiden sind, um selbst etwas einzufordern, geht der finnische Staat und alle seine Einwohner hier in die Hände dieses Menschen aus der weitläufigen deutschen Verwandtschaft.“

Und bei diesen Worten zeigte der Notar in meine Richtung. Nein, er zeigte auf mich.

Mir lief ein Schauer über den Rücken. „Das ist nicht euer Ernst!“, rief ich verzweifelt. „Was soll ich mit diesem löchrigen Land anfangen. Ich habe nur eine 60-Quadratmeter-Wohnung. Wo soll ich denn hin damit. Allein schon die riesigen Rentierherden. Habt ihr nicht was kleineres für mich? Was praktisches für unterwegs? Luxemburg zum Beispiel oder Liechtenstein? Bitte!“

Sie wollen das Erbe also ausschlagen und fünfeinhalbmillionen Finnen in die Staatenlosgkeit entlassen? So etwas hatte ich befürchtet. Das würde ihr Ende bedeuten.“

Draußen unter den Fenstern hatten sich inzwischen die Abordnungen aus Jyväskülä, Vaasa, Lappeenranta, ja sogar aus Rovaniemi versammelt und nun begannen alle zu rufen und zu schluchzen: „Was soll denn nun aus uns werden? Was wird denn nun aus uns?“

Das war schwer zu ertragen.

„Also gut, ich nehm‘s“, gab ich da klein bei, „aber wer ist denn eigentlich diese Tante Mikki nun? Kann mir das endlich mal jemand sagen?“

„Na das sagt genau der richtige!“, schnauzte mich der Notar an, schlug mit dem Hammer auf ein Brett und bat mich am Nachmittag mit einigen Sattelschleppern hinten im Depot zu erscheinen.


 


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