Erzählungen

Borneke

Es sei ein steiler Weg nach oben. Mein Mitbewohner hatte die Familie Holle kennen gelernt und mir von ihrem abgeschiedenen Leben erzählt. Der Ort, Borneke, läge nun seit kurzem ganz nahe an unserem Wohnort. Wir hätten ihn bisher nie gesehen und wenn ich ihn sehen wollte, solle ich mich beeilen. So hatte mein Mitbewohner das gesagt und ich wollte diesen Ort und diese Leute wirklich sehen. Doch es gab zu viel zu tun.

Gerade in dieser Woche mussten wieder unzählige Sätze zerlegt werden. Wir arbeiteten beide im Grammatikbüro der Universität als Hilfsexperten für zerfasernde Satzstrukturen. Täglich gab es neue endlose Sätze, die uns durch die Medien erreichten. Da hatten wir Attribute zu streichen, Relativsätze zu verschieben, Prädikate zu ergänzen und aus einem zerfaserten Satz zwei kurze zu machen. Das Restmaterial legten wir in den Wortkorb. Das alles war eine Heidenarbeit und hochkomplex. Jeder, der verständlich sein wollte, brauchte uns ja und wartete dringend auf einfache klare Strukturen. Immer weniger Menschen, so hatten wir den Eindruck, bringen ihre Sätze vernünftig zu Ende. Mindestens zweimal pro Woche wurde der überquellende Wortkorb geleert.

„Wenn du Borneke noch sehen willst, solltest du spätestens morgen hin. Es entfernt sich schon wieder!“, sagte mein Mitbewohner und schaute verträumt aus dem Fenster. „Familie Holle ist wirklich sehr nett!“

„Also gut,“ entgegnete ich, „ich fahre los!“

Ich fuhr mit dem Auto hin.

Ich wollte auf dem Hinweg ein kleines Mitbringsel kaufen und ging dazu in einen winzig kleinen Tante-Emma-Laden mit riesig großen Preisschildern. Ich hatte kein Bargeld dabei, aber eine auseinanderbröckelnde Kreditkarte. Ich kaufte etwas Rum und einige neue Gemüsesorten. Die Kreditkarte wäre bei dem Preis fast auseinandergebrochen.

Ich stieg in mein Auto und fuhr weiter. Ich musste eine imaginäre Route benutzen, denn auf allen mir bekannten Wegen um meinen Wohnort herum war mir Borneke nie aufgefallen. Ich stellte mir einen verlassenen Waldweg vor, den ich dann entlang fuhr.

Nur kurze Zeit des Suchens verging und ich fand den Ort. Borneke erstreckte sich wie ein spiralförmiges Straßendorf um einen Berg herum zog nun mich in sich hinein und auf sich herauf. Ich sah keine Autos, aber Unmengen von Misthaufen, die sich auf die Dorfstraße schoben. Ich musste den ersten Gang einlegen, weil der Weg immer steiler und rutschiger wurde. Manchmal tauchte ein Misthaufen so plötzlich vor mir auf, dass ich beim Ausweichen ins Schleudern geriet, doch als ich mir vorstellte, dass die Misthaufen ja auch zurückweichen könnten, fuhr es sich besser.

Auf der höchsten Höhe angelangt stieg ich aus. Leider hatte sich mein Mitbringsel während eines dieser Ausweichmaöver in ein Ohneholsel verwandelt, so kam ich mit leeren Händen, aber voller Erwartungen an. Das Haus der Familie Holle fand ich sofort, obgleich mein Mitbewohner es mir nicht beschrieben hatte. Herr Holle war inzwischen auswärts verstorben. Seine Frau saß freudestrahlend auf der Bank vor dem Haus.

Sie empfing mich mit den Worten, ich sei ihr schon angekündigt worden. Sie kenne meinen Mitbewohner und dieser hätte ihr erzählt, dass ich in einem meiner nächsten Träume in Borneke vorbeischauen würde.

Sie bat mich ins Haus. Doch war ich ein wenig zu groß für die kleine Eingangstür. Ich wunderte mich, wie denn Frau Holle, die eher noch größer war als ich, vor meinen Augen in dieses Haus verschwinden konnte. Ich konnte nicht hinterher. Deshalb unterhielt ich mich durch die offenen Fenster mit ihr. Sie schritt drinnen von Zimmer zu Zimmer, ich ging derweil außen an dem Haus entlang. Dreimal ging sie so hin und her und erzählte in langen Sätzen aus ihrem und meinem Leben, während ich vor dem Haus von Fenster zu Fenster lief, um ja nichts von den wirklich interessanten Neuigkeiten aus meinem Leben zu verpassen. Hin und wieder benutzte sie dabei Wortgruppen, die ich während meiner Arbeit im Grammatikbüro in den Wortkorb gelegt hatte. Es kam mir vor, als wolle sie den unwerten und entstellten Satzresten neues Leben einhauchen.

Als ich zum dritten Mal das Ende des Hauses erreicht hatte, tauchte sie nicht mehr am Fenster auf. Ich wartete ein paar Tage an der Ecke, bevor ich mich entschloss, hinter dem Haus nachzusehen.

An der Rückseite traf ich auf ihre zwei Stieftöchter. Sie waren mit irgendeiner landwirtschaftlichen Tätigkeit beschäftigt, doch als sie mich sahen, hießen sie mich herzlich willkommen und gaben mir Äpfel und Brote.

Frau Holle kam durch die Hintertür ins Freie und führte mich nun durch den Garten in die anschließenden Grundstücke hinab. Ich musste mich erneut wundern, denn von hier aus konnte man das Universitätsgelände meines Wohnortes sehen, auch exakt das Fenster des Gebäudes, hinter dessen Scheiben ich täglich Sätze zerschnitt.

Die alte Frau Holle erzählte mir, dass sie nicht die Mutter der beiden Mädchen sei, sonder dass ihr Mann in der Absicht sich fortzupflanzen kurzzeitig mit einer Bäuerin aus dem Dorf zusammenlebte. Er habe sich von ihr getrennt, wollte aber nach der erfolgreichen Geburt und dem Tod der Bäuerin zu ihr zurück. Das habe sie sich verbeten. Sie habe zwar die Töchter aufgezogen, sie auch ins Herz gefasst, aber ihren Mann habe sie nicht mehr lieben können. Während der letzten zwanzig Jahre habe sie ihre Zeit damit verbracht, am Fenster zu sitzen und das Treiben an der Universität zu beobachten. Die ganze Zeit habe sie gewusst, dass ich eines Tages zu ihr käme. Sie habe alles notiert, was in meinem Leben bisher passiert sei und habe sich auch einiges von dem, was noch passieren würde, skizziert. Auch sei ich ihren Stieftöchtern längst bekannt, und zumindest aus der Ferne hätten mich beide bereits ins Herz geschlossen.

Mir wurde schwindlig. Ich ging zurück zum Garten und fand die Mädchen dort beim Spiel. Ich gesellte mich zu ihnen. Da öffneten sich plötzlich alle Türen im Ort und eine wütende Menge stürmte mit Mistgabeln auf mich los. Die Jugend des Dorfes sah mich als Eindringling in ihrer Dorfstruktur und wollte mich zerlegen als sei ich einer dieser endlos zerfasernden Sätze.

Ich stellte mir vor, dass wir statt eines Kampfes besser Fußball spielen sollten. Das Spiel haben sie zwar dann gewonnen, aber so konnte ich wenigstens weiterleben.

Etwas erschöpft ließ ich mich zu Boden sinken und Familie Holle trug mich in mein Auto. Mit dem Versprechen bald wieder zu kommen verabschiedete ich mich von den Stieftöchtern und wollte zurück in meinen Wohnort fahren. Jedoch hatten sich die Misthaufen soweit auf die Straße geschoben, dass es unmöglich war die Rückreise auf diesem Wege anzutreten. Ich musste durch den Brunnen. Es blieb keine andere Möglichkeit. Ich fand einen von Bäumen und Sträuchern gesäumten Kanal durch dessen Mitte sich eine schmale Fahrbahn zog. Ich musste mich und mein Auto gehörig zusammenziehen, so schmal war die Fahrbahn. Als die Außenspiegel an den Rändern des Kanals immer wieder gegen Astwerk klackerten, presste ich all meine Atemluft aus den Lungen heraus und konnte mich und mein Auto so noch etwas schmaler machen.

Nun klappte es problemlos. Nur noch durch den Brunnen und schon war ich zu Hause.



Wombo-Schlagworte: Märchenhaus + hinter + einem + Hügel, Style: Steampunk