Der Abschied des Spielmannes

Ich muss, bevor ich gehe, ein letztes Mal auf mein Leben zurückblicken. Schon nächste Woche werde ich weg sein. Nach außen wohl wird es so aussehen, als ob alles weiterginge wie bisher. Aber ohne mich.
Oft habe ich mich gefragt, ob das, was ich gelernt habe, einen Sinn macht, ob ich wirklich irgendwie gebraucht werde. Die Antwort nach 27 Jahren lautet nein.
In nichts, was ich tue, spüre ich Befriedigung. Ich kann mich nicht mehr begeistern, es sei denn, es ist ein Sonnenuntergang über einem Fluss. Aber lohnt es sich allein dafür zu leben? Es scheint mir etwas wenig.
In letzter Zeit haben sich in mir Gedanken angehäuft zu gehen. Ich habe nicht mehr die Kraft ihnen auszuweichen. Ich mag nicht mehr nach außen den Optimisten geben, das habe ich lange genug durchhalten müssen. Ich habe es selbst von mir verlangt.
Immer, wenn ich bisher ans Fortgehen gedacht habe, war mein Standardsatz, dass ich ja gespannt sein dürfe, was als nächstes passiere, dass sich hier immer noch eine positive Überraschung verberge. Ich sehe sie nicht mehr. Ich weiß auch nicht, wo ich sie suchen sollte, denn egal, was passiert, es überrascht mich nichts mehr.
Vielleicht ist es blasiert und überheblich, so zu denken. Das nehme ich in Kauf, auch wenn ich weiß, dass ich längst nicht alles auf dieser Welt kenne. Ich habe aber eine Menge menschlicher Regungen erlebt. Ich weiß genau, dass da nichts anderes mehr kommt. Man kann sie durchschauen. Alle.
Was habe ich also getan, was mich erfüllt haben könnte, eine Zeit lang?
Die Dinge, die ich mehr auf Wunsch meiner Eltern begonnen hatte, habe ich nie zu meinem eigenen Willen machen können. Das fing eigentlich bei der Musik an. Ich habe sie nicht wirklich gewollt. Ich bin überredet worden. Es gab zwar Phasen, in denen ich das gerne gemacht habe, aber sie waren nur von kurzer Dauer. Ich kann mich erinnern, dass ich die Blockflöte meiner Mutter aus Wut gegen die Heizung geschleudert habe. Das Ding zerbrach. Sie hat mir eine neue gekauft. Ich war gezwungen zu spielen und zu schwach, mich dagegen zu wehren. Das gleiche galt später für die Klarinette, und das Segelfliegen. Ich habe mich immer geweigert, mich in irgendeine gesellige Veranstaltung einbinden zu lassen.
Warum habe ich trotzdem diesen vorgegebenen Weg verfolgt? Ihn sogar teilweise mit Erfolg abgeschlossen?
Alles das war nicht mein eigener Wunsch. Auch wenn ich diesen Druck, den früher andere auf mich ausübten, zum Selbstantrieb gemacht habe. Ich habe mich selbst dazu überredet zu studieren, meine Zeit mit Grammatik zu verbringen, in einer Band und Kabarett zu spielen, einen Beruf zu ergreifen. Die Lust war immer nur von kurzer Dauer. Die Motivation hat immer schnell nachgelassen und mit ihr die Konzentration. Eben, weil es doch nie das war, was mich glücklich machen könnte, oder gar erfüllte.
Ich habe von meinen Eltern gelernt, Dinge zu tun, die ich nicht mag. Ich habe nicht von ihnen gelernt, das zu tun, was ich mag, geschweige denn herausgefunden, was das sein könnte. Deshalb gab es kein anhaltendes Engagement. Nichts geschah mit Freude. Und wo doch mal ein kleiner Ehrgeiz auftauchte, wurde er schnell von der Einsicht getrübt, dass meine Fähigkeiten nicht ausreichen, um es auf diesem Gebiet zu etwas zu bringen. Und dass es sich nicht lohnt, Zeit und Material aufzubringen. Denn was sollte der letztendliche Zweck sein?
Wenn ich genau nachdenke, ist die einzige Fähigkeit, aus der ich einen Nutzen ziehen könnte, die Fähigkeit anderen zuzuhören und diesen anderen als Sammelplatz ihrer Seelennöte zu dienen. Das hat mir eine leise Ahnung davon gegeben, dass es so etwas, wie Befriedigung gibt. Doch, bitte schön, was ist das wirklich? Es ist nichts für mich, sondern selbstloses Für-Andere-Da-Sein.
Nichts sonst kann ich gut. Nichts, als grübeln, Ängste wegdrücken, in Träume flüchten. Ich habe versucht zu schreiben. Ich hatte gedacht, dass bei meiner Tagträumerei wenigstens ein paar schöne Zeilen entstehen könnten. Doch taugen die nur für ein Betroffenheitstagebuch, das niemand lesen will.
Bliebe noch die Liebe. Neun gescheiterte Beziehungen sprechen für sich. Da gibt es nichts zu sagen, als dass ich es sehr gut verstehen kann, dass die Frauen spätestens nach einem Jahr vor mir flüchten. Da ich ja nichts bieten kann, als Selbstzweifel.
Ich könnte nun alles auf meine Krankheit schieben, oder auf die Eltern, auf den Alkohol- und Nikotinkonsum oder was es sonst noch für Ausreden geben mag. Und es sind Ausreden. Gegen all das kann man sich durchsetzen. Wenn man einen starken Willen hat. Und wenn sich dieser Wille auf das Gute des menschlichen Lebens gründen kann.
Es gibt aber aus meiner Sicht keinen Zweck in dieser Art Leben. Es ist nichts da, wofür die Menschheit kämpfen könnte, denn alles ist schierer Selbstzweck. Wenn es etwas geben würde, sei es eine Ideologie oder wirtschaftlicher Fortschritt oder wissenschaftliche Erkenntniss, wäre das entweder unerreichbar oder erreichbar. Wenn es unerreichbar ist, hat es keinen Sinn dafür zu leben, wenn es erreichbar ist, gerät der Mensch auf eine neue Stufe und stellt sich ein neues Ziel, so dass diese Etappen eine unendliche Linie ins Nichts bilden, die mir wirklich nicht verlockend vorkommt.
So, wie mit der gesellschaftlichen Entwicklung, ist es auch mit der persönlichen. Niemand kann sich selbst ergründen. Es werden sich immer neue Rätsel auftun. Letztlich wird jeder, der zu tief in sich hineinschaut, an sich selbst zu Grunde gehen.
Ich bin mitten in ein Geflecht aus Unendlichkeiten gestellt und jede neue Etappe in jeder Richtung dieser verworrenen Schnüre offenbart sich als neue Mitte, mit denselben aussichtslosen Fernen. Das ist die Verzweiflung.
Es gibt also nichts mehr hier zu tun. Ich habe nicht mehr das Bedürfnis, an der Ausbreitung und Verbreitung des Lebens teilzunehmen. Ich will nicht mehr neue Tiefen oder Höhen in mir entdecken, keine neuen kleinsten oder größten Teile der Welt sehen. Sie machen mir Angst und rauben mir die Kraft, mich auszuhalten.
Ich werde also gehen. Ihr könnt ja so weiter machen.
Ich bin weg.
Zwar sieht man es mir nicht an, doch das äußere Bild trügt. Natürlich kann man mich noch sehen, wenn ich über die Straßen gehe, wenn ich still, allein im Kino sitze oder wenn ich für mich und meinen Mitbewohner jeden Morgen einen Kaffee koche. Es hat wirklich den Anschein, als sei ich noch da. Bin ich aber nicht. Ich bin jetzt ein Trugbild meines eigenen Ichs. Auch ich würde mich für mich halten, wenn ich mich sähe. Da ich aber nicht da bin, sehe ich mich auch nicht mehr. Morgens vor dem Spiegel beim Putzen der Zähne eines nicht mehr anwesenden Menschen, sehe ich hinter dem Spiegel ein nicht mehr anwesendes Bild meiner selbst. Ich frage mich dann manchmal, warum dem Typ da seine Zähne noch so wichtig sind, wenn er doch eh nicht mehr da ist. Es ist erstaunlich wie schnell sich auch auf den Zähnen eines Abwesenden dieser bräunliche Belag bildet. Der Beginn eines Moderprozesses vielleicht, in diesem Fall. Er, der abwesende isst ja auch immer weniger. Er trinkt immer weniger. Er schläft immer weniger. Er wird immer weniger. Kann etwas Abwesendes nach und nach verschwinden?
Diesen Text habe ich vor 25 Jahren geschrieben und bin seitdem nicht mehr aufgetaucht.